Liebe Leserin, lieber Leser,
„Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ So lautet die Jahreslosung für das neue Jahr 2017. Sie steht beim Propheten Ezechiel im 36. Kapitel. Das Wort Losung stammt aus der Jägersprache und bezeichnet die Spur, der der Jäger folgt. Die Losung will uns daher eine Spur durch dieses Jahr legen.
Der Prophet Ezechiel erlebte, wie um ihn herum Herz und Geist verblassten. Nach der Eroberung Jerusalem 587 Jh. v. Chr. war die Oberschicht Israels nach Babylon verschleppt und dort angesiedelt worden. Da saßen sie nun in einem fremden Land, mit einer fremden Sprache, einer fremden Kultur und einer fremden Religion. Überkommene Werte und Normen, religiöse Überzeugungen und Rituale verloren ihre Bedeutung. Eine umfassende Orientierungskrise war die Folge.
Doch das Volk Israel ging gestärkt aus dieser Krise hervor. Sie ersetzten ihren Tempelkult durch Synagogen, erfanden neue Lieder, überarbeiteten die alten Texte. Am Ende hatten sie ihren Glauben erneuert und gestärkt. Ein Lernprozess war in Gang gekommen: Man sortiert, woran man trotz allem unbedingt festhalten will, anderes wird aufgegeben, manches aus der neuen Umgebung aufgenommen, anderes abgestoßen. Eben zu solcher Auseinandersetzung ruft Ezechiel seine Mitgefangenen in Babylon auf. Ihnen gilt der Zuspruch Gottes: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“
Die Losung für das neue Jahr gilt also in besonderer Weise Menschen, die sich in einer Krise befinden: Weil sie ihre Heimat verloren haben und sich in der Fremde ein neues Leben aufbauen müssen; weil eine Diagnose ihre Lebenspläne infrage stellt; weil ihre Firma in Schwierigkeiten steckt; weil Zukunftsperspektiven verschwunden sind; weil sie spüren, dass ihre Maßstäbe nicht mehr tragen.
Von den Israeliten heißt es in Psalm 137, dass sie an den Flüssen Babylons saßen und weinten. Ohne dass wir trauern über das, was wir verloren haben, geht es nicht. Sich auf eine neue Lebenssituation einzustellen und darin Perspektiven für sich zu entwickeln, braucht Zeit. Die alten Muster haben ja lange getragen, sie zu ersetzen ist ein aufwendiger Prozess. Zugleich ist die Gefahr groß, dass die Rückschau lähmt und uns daran hindert, den Realitäten ins Auge zu schauen und uns auf den Weg zu machen. Trotzdem, es braucht eine Weile, das Alte angemessen zu verabschieden.
Wir gehen mit so mancher Sorge in dieses neue Jahr. Bei den vielen Jahresrückblicken in den letzten Tagen wurden wir wieder an die viele Gewalt erinnert. Daran dass die Gewalt nun auch zu uns gekommen ist nach Deutschland musste uns niemand erinnern.
Da vergisst man leicht all das Gute des letzten Jahres. Mit Sorge sehen wir auch auf die Entwicklungen in vielen Ländern, in denen Populismus geholfen hat Wahlen zu gewinnen. Nun wird bald Donald Trump als Präsident eingeführt.
Vielen Menschen machen auch bei uns die Flüchtlinge Angst, die zu uns gekommen sind. Solchen Ängsten kann man sinnvollerweise nicht damit begegnen, dass man einfach sagt, das ist ja alles gar nicht so.
Für mich war das letzte Jahr sehr von der Begegnung mit Flüchtlingen geprägt. In der Lukaskirche arbeite ich mit vielen Ehrenamtlichen in unserem Begegnungscafe mit Menschen aus Syrien und Afghanistan. Mit diesen Muslimen ist dort Vertrauen gewachsen, Freundschaften sind entstanden. Mitten in der Adventszeit hatten wir in der Lukaskirche ein eindrückliches Erlebnis. Bei unserem lebendigen Adventskalender, bei dem wir uns jeden Tag um 18 Uhr vor einem Fenster in unserer Gemeinde getroffen haben, war das Gemeindebüro an der Reihe. Im Foyer der Lukaskirche kamen etwa 50 Deutsche. Doch dann kamen noch etwa ebenso viele Afghanen dazu. Sie waren einfach gekommen. Die beiden Gastgeberinnen waren sehr aufgeregt, wie das nun gehen soll. Spontan haben wir die ganze Feier zweisprachig gemacht, in den Deutsch und Persisch. Die Lieder waren nicht das Problem, denn „die Weihnachtsbäckerei“ zu, Beispiel kannten die afghanischen Kinder aus der Schule schon auswendig. Am Ende sprachen wir ein Gebet auf Deutsch und dann einen Segen. Mit hundert Menschen fassten wir uns alle an den Händen und ich sprach ein langes Segensgebet, in dem ich um Frieden bat für uns in Bremerhaven und in aller Welt. Unsere Übersetzerin Ziba übersetzte jeden Satz ins Persische. Und jedes Mal, wenn sie übersetzt hatte erscholl es aus 50 muslimischen Kehlen: „Amin!“ Das ist auf Arabisch-persisch unser hebräisches Amen.
Da hatten wir einfach die Hände gereicht und gemeinsam gebetet zu Gott. Nachdem ich jahrzehntelang darüber diskutiert und theoretisiert hatte, wie man mit Muslimen gemeinsam Gottesdienst feiern konnte. Jetzt hatten wir nicht diskutiert, sondern es einfach getan. Das werde ich nicht vergessen, so lange ich lebe.
Und ich habe begriffen, dass ich nicht Bruce Willis bin und nicht die ganze Welt retten kann. Aber das muss ich auch nicht. Es reicht, einander die Hände zu reichen im gemeinsamen Gebet.
„Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“
In Zeiten des Populismus, in denen in immer mehr Ländern Wahlen gewonnen werden, in dem der Egoismus zur Staatsräson erhoben wird, ist es wichtig andere Zeichen zu setzen. Oder wie Konstantin Wecker 2009 in einem Lied so schön einen alten Text von Lothar Zenetti aufgenommen hat:
„Was keiner wagt, das sollt ihr wagen./
Was keiner sagt, das sagt heraus.
Was keiner denkt, das wagt zu denken./
Was keiner anfängt, das führt aus.
In den 60 Jahren des Exils hat sich die jüdische Gemeinschaft auf diese Weise neu erfunden. Tempelkult und Priestertum wurden aufgegeben. An ihre Stelle trat die Synagoge als neuer Versammlungsort. Die Auslegung der Heiligen Schrift und mit ihr die religiöse Gelehrsamkeit rückte ins Zentrum. Das theologische Verständnis Gottes wurde in Auseinandersetzung mit der babylonischen Götterwelt zunehmend monotheistisch geschärft. In dieser Zeit fällt vermutlich auch die Konzentration auf die Beschneidung und die Heiligung des Schabbats als verbindliche Zeichen jüdischer Identität. Auf diese Weise wuchs mit den Jahren ein neues Herz, ein neuer Geist.
„Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“
Auch im Christentum hat es immer wieder intensive Zeiten der Krise, der Selbstkritik, der Besinnung auf das Wesentliche und des Ausprobierens gegeben, z. B. im Mönchtum, in der Reformationszeit oder im Kirchenkampf.
Das Jahr 2017 ist unser Reformationsjubiläumsjahr. Ich bin sehr gespannt, ob wir herausbekommen, was die Gedanken von damals uns heute sagen können und werden.
Es hat wohl nicht viel Zweck, Gott zu bitten, uns vor Krisen zu beschützen. Aber ich bitte ihn darum mit den Worten des Propheten Ezechiel, uns durch die Krisen, die zweifellos kommen werden, mit seinem Segen hindurch zu geleiten. Damit wir nicht in Trauer und Ängstlichkeit stecken bleiben, sondern die Unsicherheit mutig als Chance ergreifen. Die Kriege können wir nicht beenden, der Gewalt nicht wehren. Aber wir können einander die Hände reichen als Christen und Muslime und der Welt sagen: Wir sind keine Feinde. Wir stehen zueinander.
Ob wir das auch untereinander schaffen als Bremerhavener miteinander, egal woran wir glauben?
Möge es für Sie in ihren Familien und für uns alle ein gutes Jahr werden.
Ich wünsche Ihnen Gottes Segen!
Pastor Sebastian Ritter, Johanneskirche