Stühle stehen an der Wand aufgereiht. Immer ein Stuhl dazwischen ist frei. Acht Menschen sitzen und schweigen. Die anderen stehen draußen auf dem Flur, sogar die Treppe hinunter, und schweigen auch. Viele schauen auf ihr Smartphone. Alle warten, dass sie drankommen. Manche wollen geboostert werden, andere einfach so zur Ärztin. Auf dem kleinen Tisch in der Mitte steht ein Adventskranz. Daneben liegen die üblichen Zeitschriften. Weniger als früher. Wegen der Handhygiene?
Der Mann mir gegenüber hustet ein wenig, wofür er beunruhigte Blicke kassiert. Dann schaut er wieder in sein Buch. Er liest Samuel Beckett, „Warten auf Godot“. Ich muss grinsen, super Lektüre in dieser Situation. Warten auf jemanden, der stets angekündigt wird, aber dann doch nie eintrifft. So wie das Ende von Corona. So wie die Ankunft des Herrn …? Ich merke, wie meine Gedanken auf Reisen gehen. Dann schaue ich mir den Beckett-Leser genauer an. Immerhin hat er sich gut aufs Warten vorbereitet.
„Frau Jansen, bitte.“ Die Arzthelferin hat ihren Kopf durch die Tür gesteckt. Eine weißhaarige Frau mit Verband am Handgelenk steht umständlich auf, ihre Illustrierte fällt zu Boden. Ich hebe sie auf, bekomme dafür einen freundlichen Blick. Sie geht hinaus und unsere Wartezimmerruhe ist wiederhergestellt. Die Sonne scheint durchs Fenster. Neben dem Samuel-Beckett-Mann hat der Schatten vom Gummibaum Platz genommen.
Die Tür geht auf. Alle blicken hoch, auch die Smartphone-Gucker*innen. Ein neues Mitglied in unserer Wartegemeinschaft wechselt vom stehenden ins sitzende Warten. „Moin Maren, was machst du denn hier?“, begrüßt die Frau links neben mir die Neue. „Ach, du, schon wieder die Bandscheibe!“ Die Stimmung im Wartezimmer ändert sich. Die beiden sprechen viel. Wir erfahren, dass Monikas (so heißt offenbar meine linke Nachbarin) Mann das auch so schlimm hatte. Beim Thema Rücken könnte ich auch mitreden, höre aber lieber zu. Monikas Nachbarin ist jetzt im Seniorenheim, was in diesen Zeiten echt schwierig ist. In die Wohnung sind drei Studentinnen eingezogen, froh darüber, nicht mehr nur von zuhause aus digital studieren zu müssen. Aber wer weiß, was noch wird in den nächsten Wochen.
Der Mann mir gegenüber hat sein Buch zugeklappt. Seinem Blick ist anzumerken, dass er zuhört, was Maren und ihre Freundin Monika erzählen. Ich schaue mich um. Alle hören zu. Blicke treffen sich, als Maren gerade erzählt, wie sie immer die Zimtsterne macht. Wir lächeln uns zu, der Beckett-Leser und ich. Zwei andere reden jetzt leise miteinander. Eben waren alle mit ihren Schmerzen oder Sorgen allein. Jetzt nehmen wir einander wahr. Auch unter unseren Masken. Schmunzeln und reden. Meine Gedanken gehen wieder auf Reisen: Warten ist gut für uns – es bringt uns einander näher. Hinschauen. Hinhören. Aufmerksam sein. Eine gute Übung für das Fest. Kostet auch nichts. Und man kann überall damit anfangen. Ihnen allen eine erwartungsvolle Adventszeit!
Pastor Frank Leßmann-Pfeifer