Andacht September 2016

01. September 2016

Seit gut fünfzehn Jahren höre ich im Klinikum Bremerhaven-Reinkenheide Menschen zu und begleite und unterstütze sie. Menschen, die in einer besonderen Situation sind weil sie sich mit körperlichen oder seelischen Beeinträchtigungen und Krankheiten auseinandersetzen müssen.

Für manche geht es dabei nur um Tage oder Wochen, bis sie ihren Alltag und seine Normalität einigermaßen wieder zurückerobert haben. Andere gehen diesen Weg Monate und Jahre, einige ahnen oder wissen, dass ihre alte Alltagsnormalität nicht wieder zu erreichen ist und ihre Krankheit ihre Lebenserwartung stark verkürzen wird.
Unter diesen Eindrücken findet für viele Menschen das Leben wie in einem Brennglas statt. Erkenntnisse verdichten sich manchmal voller Verzweiflung und schmerzhaft, manchmal erhellend oder ganz neu sinnstiftend. Plötzlich wird klar und deutlich, was diesen Menschen wichtig und was ihnen eigentlich unwichtig ist. Sie wundern sich z.B., dass ihnen erst unter dem Eindruck einer Erkrankung deutlich wird, wie unnötig sie sich über Menschen, Situationen oder Gegebenheiten aufgeregt haben.

Ihnen fällt auf, was in ihrem Leben bisher Zeitverschwendung war und was zu kurz gekommen ist. Viele sagen zum Beispiel: Zum Fernsehen habe ich plötzlich überhaupt keine Lust und Zeit mehr! Andere sehnen sich nach guten Gesprächen oder tiefer Ruhe bei einem Spaziergang in der Natur.
Ihnen brennen manchmal unausgesprochene aber wichtige Sätze im Herzen für die sie die Situation noch nicht gefunden haben um sie sagen zu können oder zu dürfen. Z.B.: Du bist mir sehr wichtig! Ich bin Dir sehr dankbar für ...! Du gibst mir Halt und Trost. Oder auch: Ich frage mich, wer ich für Dich bin! Ich hoffe, Du hast mir verziehen. Ich wollte Dir einfach mal sagen das ...!


Beim Zuhören und in den Gesprächen ist mir aufgefallen, dass Menschen dabei immer wieder in ihrem Denken, Fühlen und Sprechen um drei Themenkomplexe kreisen:
Angstbewältigung, Sinnfindung und Selbstbefreundung.
Also, was macht mir Angst und wie bin ich bisher damit umgegangen? Warum kenne ich auch viele Ängste nicht? Und was trägt und tröstet mich jetzt?
Oder. Wo erlebe ich in meinem Leben Sinn? Was gibt mir Kraft und macht mir Mut? Und was raubt mir die Energie und macht mich müde und mutlos?
Wie stehe ich eigentlich zu mir selbst? Würde ich mit mir befreundet sein wollen? Habe ich einen liebevollen Blick auch auf meine Ecken und Kanten und wie bewältige ich meine Schuld und mein Scheitern?
Zugegeben, das alles sind Lebensaufgaben, die nicht mal eben so zu bearbeiten und zu lösen sind. Da nützt uns auch ein Leben im Zeitalter des Wohlstandes, der Sicherheit und der Selbstoptimierung nichts. Auch gibt es immer weniger Vorbilder, an denen wir uns orientieren könnten, eigentlich und strenggenommen keine. Jeder und jede müssen ihren eigenen Weg und ihre Antworten finden.

Hier ist die Seelsorge und Beratung im Krankenhaus gefragt den Menschen Gegenüber und Mitmensch zu sein und die Kraft zum Menschsein zu stärken. Die Seelsorge heute zielt auf die Stärkung der Betroffenen im Umgang mit dem was ihnen widerfährt. Angebote der Deutung um das Geschehen in das eigene Leben zu integrieren sind dabei sehr wichtig.

Wenn das aber gelingt erfahren Menschen die Wahrheit des Satzes aus dem Brief des Paulus an die Römer im achten Kapitel:
Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes.

Pastor Martin von der Brelje, Seelsorger im Klinikum Bremerhaven Reinkenheide