Es ist ein Freitagabend mitten im Mai 2008 in Jerusalem. Zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Vikariatskurs befinde ich mich auf Studienfahrt in Israel. An diesem Tag stehen wir gegenüber von der berühmten Klagemauer auf einem erhöhten Aussichtspunkt. Wir warten darauf, dass die Sonne versinkt, denn mit dem Sonnenuntergang beginnt nach jüdischer Vorstellung der neue Tag, in diesem Falle also der Sabbat, der jüdische Feiertag.
Mit der Zeit wird der Platz vor der Klagemauer immer voller. Viele sind an ihrer schwarzen Kleidung als strenggläubige Jüdinnen und Juden zu erkennen. Einige beten und lesen. Irgendwann beginnen die ersten zu singen und sogar zu tanzen. Sie nehmen sich in den Arm und tanzen immer schneller im Kreis. Die Strenggläubigen tanzen streng nach Geschlechtern getrennt. Die anderen auch in großen gemischten Gruppen. Jede Gruppe singt und tanzt in ihrem Tempo. Eine hört auf, die nächste fängt an. Der ganze Platz wogt und bebt vor fröhlichen Menschen, die voller Vorfreude auf den Sabbat warten. Über ihren Köpfen fliegen aufgeregt singende Vögel hin und her.
Wie diese feiernden Menschen an der Klagemauer einen ganz normalen Sabbat begrüßt haben, war für mich das beeindruckendste Erlebnis auf der ganzen Studienfahrt vor 11 Jahren. Und es hat mir vor Augen geführt, was für einen großen Stellenwert man einem Feiertag geben kann. Und wie hoch dieser Stellenwert des Sabbats im Judentum ist, kann man allein schon daran merken, dass es in der Bibel zwei Begründungen für ihn gibt. Die erste steht im 2. Buch Mose im 20. Kapitel:
8 Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. 9 Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. 10 Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.
11 Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
Hier steckt eine große Wertschätzung der Arbeit drin. Jeder Mensch soll und darf arbeiten. Aber die Arbeit ist nichts ohne die Pause. Höhepunkt der biblischen Schöpfungserzählung ist kein Werk Gottes, auch nicht der Mensch. Die Krone der Schöpfung ist der Sabbat, der freie Tag. Die Unterbrechung, das Innehalten.
Für mich heißt das: Zum Menschsein und sogar zum Tiersein gehört das Arbeiten und die Pause. Leben ist mehr als Überleben. Der freie Tag in jeder Woche erinnert uns daran. Wir sind mehr wert als das, was wir leisten. Wir sind wertvoll, weil Gott uns geschaffen hat.
Die zweite Begründung für den Sabbat finden wir im 5. Buch Mose im 5. Kapitel
12 Den Sabbattag sollst du halten, dass du ihn heiligst, wie dir der HERR, dein Gott, geboten hat. 13 Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. 14 Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt, auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du.
15 Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der HERR, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der HERR, dein Gott, geboten, dass du den Sabbattag halten sollst.
Was für ein spannender Gedanke. Der freie Tag in der Woche ist immer eine kleine Befreiung. Und zwar die Befreiung von der Arbeit. Gott hat uns Freiheit geschenkt. Und diese Freiheit sollen wir aus Dankbarkeit teilen, mit den Tieren und auch mit den Fremden, die zu uns kommen.
Noch einmal zurück nach Jerusalem: Ich weiß nicht mehr, wie lange ich den feiernden Menschen an der Klagemauer zugeschaut und zugehört habe. Eine Stunde oder auch zwei. Aber ich weiß noch, dass, als ich allein in unsere Unterkunft gegangen bin, die Feiern an der Klagemauer weitergegangen sind. In der ganzen Altstadt habe ich den Gesang gehört. Was für eine Freude! Für die Jüdinnen und Juden ist der Sabbat offensichtlich ein großes Geschenk. Können wir etwas von ihnen lernen?
Als ich durch die Straßen in Jerusalem gegangen bin, habe ich auch über den Sonntag nachgedacht, unseren Feiertag. Wir feiern den Sonntag, weil er der erste Tag der Woche ist, weil wir glauben, dass Jesus Christus an diesem Tag vom Tod auferweckt worden ist. Gott befreit aus der Macht des Todes. Ist das nicht auch ein Grund, wenigstens einmal die Woche zu singen und zu tanzen?
Christian Schefe,
Pastor der Marien- und Christus-Kirchengemeinde