Viele kritisieren heute die Religionen. Sie verdummen die Menschen und setzen sie überflüssigen Zwängen aus, heißt es. Wer religiös ist, neigt dazu, anderen mit Gewalt seinen Glauben aufzuzwingen, sagen Kritiker. Der Philosoph Peter Sloterdijk behauptet sogar: Religion ist totalitär. Dabei beruft er sich auf das Alte Testament und spricht von „totaler Mitgliedschaft“. Gott schließe einen totalitären Bund mit dem Volk Israel. Wer seinen Geboten gehorcht, wird gesegnet. Wer sie nicht befolgt, wird getötet. Wenn wir heute die fünf Bücher Mose lesen, finden wir darin in der Tat vieles, was wir fremd und unangenehm finden. Dass Gott dort manchmal die Tötung der Sünder befiehlt, können und wollen wir heute nicht mehr nachvollziehen. Ist Religion also totalitär?
Ich glaube, Sloterdijk benennt etwas Richtiges. Der heilige Gott und der Mensch, wie er nun einmal ist – oft selbstbezogen, aufs eigene Interesse bedacht, der sich für Gott nur interessiert, wenn er ihn braucht – passen nicht zusammen. Wenn beide aufeinander treffen, wird es ungemütlich für den Sünder, kommt es zum blutigen Zusammenstoß.
Weil das so ist, hat Gott es nicht beim alten Bund (= Testament) bewenden lassen. Wir Christen leben vom Neuen Testament (=Bund). Auch hier kommt es zu einem blutigen Zusammenstoß. In den meisten Kirchen sehen wir ein Abbild davon. Jesus, der Sohn Gottes, wird gekreuzigt. Merkwürdig: nicht der Schuldige, der Gottes Gebote mit Füßen tritt, wird bestraft und getötet, sondern der Gerechte, der Liebevolle, Gottes Sohn selber. Das Neue Testament sagt: das ist nicht nur ein Justizirrtum, Mobbing, zum Himmel schreiendes Unrecht. Hier trägt Gott die Spannung zwischen sich und dem schuldigen, gottfernen Menschen an sich selber, in seinem Sohn aus. Hier stirbt Christus am Kreuz den Tod der Sünder und schafft in seiner Auferstehung neues Leben für uns Menschen.
Ich weiß, das ist nicht zu leicht zu verstehen. Von unseren Alltagssorgen scheint das manchmal weit weg zu sein. Und doch: das stellt die Beziehung von Gott und den Menschen vom Kopf auf die Füße. Hier gilt kein „Ich muss und will doch nicht“ mehr, keine Drohung und keine Strafe. Gott hat den Weg frei gemacht, dass ich, so schwierig und problematisch ich auch bin, zu ihm kommen und bei ihm bleiben kann. In manchen religiösen Fundamentalismen mag die Gefahr des Totalitären schlummern. Ohne Gott, atheistisch betrachtet, ist das Leben trostlos. Aber hier bei Gott, der selbst meine Zwiespältigkeit überwunden hat, finde ich Trost, werde ich gehalten, bin ich geliebt. Hier komme ich nach Hause und darf da für immer bleiben.
Götz Weber, Pastor an der Kreuzkirche